Liebste Krippenfigur
Welche ist eigentlich ihre liebste Krippenfigur? Wie der bekannte ehemalige Bischof der Diözese Innsbruck Dr. Reinhold Stecher darauf antwortete erzählt er hier selbst.
Wenn die Weihnachtszeit näherrück werden Journalisten einfallsreich. Sie brauchen passende Texte. Und da sie diese am liebsten vonseiten einer gewissen Prominenz bevorzugen, bedrängen sie Bischöfe mit allen möglichen Fragen. „Wie verbringen Sie den Heiligen Abend?“ ist schon etwas abgebraucht. „Welchen Wunsch haben Sie besonders auf de Herzen?“ Der erste, der mir einfällt – den darf ich nicht laut sagen: Einmal eine Zeitlang keine Interviews zu erleben… Auch die Fragen, welche Erwartungen man ans kommende Jahr stellt, sind langsam ermüdend und ringen nur etwas gequälte Platitüden ab.
Die Anfrage einer Redaktion, welche meine liebste Krippenfigur sei, war zwar eine Neuheit, aber es fällt mir nicht leicht, sie zu beantworten. Die Frage wird ja höchstwahrscheinlich an mehrere Würdenträger gestellt. Ich kann mir also ausrechnen, dass meine Mitbrüder im Herrn die Krippe ganz schön abräumen. Die Szene von Bethlehem zeigt ja Figuren in einer Reihenfolge objektiver Wertschätzung, angefangen vom göttlichen Kind. Und die Sammlung bischöflicher Krippenmeditationen kann ja nicht besonders spannend sein, wenn sich alle frommen Herren auf die Heilige Familie beschränken. Ich muss also ausweichen. Und so weiche ich mit der Wahl der liebsten Krippenfigur in eine Ecke aus, in der ich keine Konkurrenz fürchte: Ich wähle den Esel.
Aber diese Wahl geschieht keineswegs nur aus Verlegenheit. Ich habe vor dem Esel einen tiefen Respekt. Natürlich spielt – wie das bei uns Menschen immer sehr bestimmend ist - eine persönliche Begegnung eine bedeutende Rolle. Ich habe im vergangenen Sommer auf einer Südtiroler Schutzhütte einen so zutraulichen, liebenswürdigen Esel kenne gelernt, dass ich meine Vorurteile mit einer gewissen Beschämung revidiert habe. Und so steht am Beginn meines Versuchs, den Krippenesel biblisch, theologisch und moralisch zu rehabilitieren, eine Art Schuldkomplex.
Im Evangelium ist der Esel an der Krippe allerdings nicht erwähnt. Seine Weihnachtliche Rolle verdankt er dem Propheten Jesaja. Der schreibt nämlich im 1. Kapitel, Vers 3: „Der Ochs kennt seinen Besitzer und er Esel die Krippe seines Herrn…“
Und damit hat der Esel schon seine erste Funktion. Es ist sozusagen eine biblisch-didaktische. Er erinnert uns daran, dass man das Neue Testament immer mit dem Blick auf das Alte und das Alte mit dem Blick auf das Neue lesen muss. Das gilt im besonderen Fall für die Kindheitsgeschichte. Da gibt es so viele Bezüge, Vorbilder, Symbole und Anspielungen auf die Verheißungen des Alten Testaments, dass dem interessierten Leser richtige Lichter aufgehen, wenn er in dieser Hinsicht ein wenig Bescheid weiß.
Die erste Botschaft vom Meister Langohr heißt also: „Siehst du, werter Christ, wenn du keine Ahnung vom Propheten Jesaja hast, verstehst du bei der Krippe nicht einmal mich, den Esel. Tu also etwas für deine dürftige biblische Bildung. Und noch etwas: Manche Figuren hat nur die fromme Phantasie auf die Krippe gestellt – wie z.B.: die plaudernden Frauen am Brunnen, den störrischen Geißbock oder den Hirten mit dem Dudelsack. Com goldbetreßten Reitelefanten der Weißen will ich gar nicht reden. Aber ich, der Esel, berufe mich auf den größten Propheten Israels. Ich bitte mir also einen gewissen Respekt aus…“
Zum zweiten ist die Anwesenheit des Esels auf der Krippe eine unmissverständliche Moralpredigt gegen die religiöse Gleichgültigkeit. Beim oben genannten Text des Jesaja heißt es nämlich weiter: „Aber Israel erkennt nicht, mein Volk hat keine Einsicht…“ Damit ist doch klar gesagt, wofür Jesaja einen Menschen hält, der die Krippe seines Herrn nicht kennt und nicht kennen will. Der Gleichgültige unbelehrbare und Indolente rangiert also beim großen Propheten weit unter dem Esel. Und so wird der Esel neben der Krippe eigentlich zum Mahnmal für alle, die am Wunder der Weihnacht mit ein paar Phrasen und einigen Gefühlchen nur vorüberhuschen und für das Wesen der Dinge kein Interesse haben, den Kopf voller Nichtigkeiten und Eitelkeiten, obwohl es der Herr doch so gut mit ihnen meint. Für sie alle steht der Esel mit der ihm eigenen Sturheit neben der Krippe und sagt: „Bitte, nehmt euch ein Beispiel. Ich weiß wenigstens, was sich gehört…“
Die dritte Rolle des Esels hat einen höchst Zeitgemäßen Beigeschmack. Der Esel steht neben seinem Schöpfer als Präsentant der leidenden, belasteten und vom Menschen schlecht behandelten Kreatur. Na, da hat er ja heute ziemlich viel zu vertreten. Er spricht aus der leidvollen Erfahrung seiner Artgenossen durch die Jahrtausende: „Wie seit ihr bloß mit uns umgegangen! Durch Jahrtausende haben wir euch als Volks- und Lieferwagen gedient, wobei wir nicht einmal über ein PS verfügen, und seit ihr auf luftverpestende Autos umgestiegen seid, benutzt ihr uns überhaupt nur als Schimpfwort!“
Wenn ich an meinen langohrigen Freund auf der Alm im Sommer denke, steigt mir richtig die Schamröte auf. Als Vertreter der ausgebeuteten und verachteten Natur hat der Esel einen sehr sinnvollen Platz auf der modernsten Krippe.
Die vierte Rolle des Esels ist etwas hintergründig. Ich will es rundweg heraussagen, auch auf die Gefahr hin, dass mich ein lieber Leser auslacht: Ich fühle zum Esel eine gewisse existenzielle Verwandtschaft. Vielleicht kann ich es erklären.
Wenn ich so vor der Krippe verweile und mit Herz und Sinn in das Geheimnis der Heiligen Nacht einzudringen versuche und erahnen möchte was das heißt: „Gott wird Mensch“ – was da an Göttlichem und Menschlichem in der Weltgeschichte und im Universum bewegt wird, und wenn ich fühle, welche Wogen des Mysteriums über mich zusammenschlagen, was für eine unbegreifliche Helle und was für ein undurchschaubares Dunkel, und wie das alles meine Intelligenz übersteigt und sich aller Phantasie entzieht – wenn ich also bei einer derartigen Krippenbetrachtung wieder aufschaue und auf den Esel blicke, scheint er mir tatsächlich zuzuzwinkern und zu sagen: „Siehst du, viel gescheiter als ich bist du auch nicht…“ Und wo er recht hat, hat er recht. Da nützt weder Doktorhut noch Mitra. Vielleicht ist es ein kleiner Trost, das meines Wissens einige sehr große Theologen und Kirchenlehrer ganz ähnlich gedacht haben – aber nur die großen. Ein paar kleinere und mittlere würden den Vergleich mit dem Esel entrüstet zurückweisen und dabei gar nicht draufkommen, dass ihnen samt ihrem akademischen Standesbewusstsein bei der Krippe des Herren ein viel schlechterer Platz zugewiesen wird als dem Esel.
Und schließlich gibt es für mich beim Krippenesel noch einen fünften Aspekt. Ich meine seinen musikalischen Beitrag zu den Gesängen von Betlehem. Er ist nach Melodie und Text bescheiden. Vom Melodiösen her ist der Eselgesang auch bei wohlwollender Beurteilung dürftig und bewegt sich bestenfalls auf zwei Tonstufen. Und beim Text beschränkt sich der Esel auf eine Silbe: I-ah.
Aber hier beginnt nun die Überraschung. Dieses „Jah“ ist die letzte Silbe von Hallelujah. Und so zeigt der Esel, dass er mit seinen bescheidenden Möglichkeiten in die Chöre auf den Fluren von Bethlehem einstimmt. Und zwar mit der wichtigsten Silbe: „Hallelú“ heißt auf hebräisch „lobet“ – und „Jah“ heißt „Gott“. Der unscheinbare Esel kann also auch hebräisch. Und so verweist der musisch schwach begabte Esel auf das Zentrum allen Lobgesangs: auf den Herrn. Angesichts unserer Überkonzentration auf Welt, Mensch, Diesseits und Materie trifft er eigentlich wieder den Nage auf den Kopf: Jah - du sollst den Herrn, deinen Gott, loben…“
Ich hoffe, dass diese Darlegungen als Erklärung ausreichen, warum ich den Esel zu meiner liebsten Krippenfigur gewählt habe. Und ich hoffe, dass Sie den langohrigen Multifunktionär in Zukunft mit etwas mehr Respekt betrachten.
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